Die sixtinische Madonna oder Madonnen-Ohr

"Die sixtinische Madonna oder Madonnen-Ohr"

1958, Öl auf Leinwand

223 x 190 cm

Im Rahmen seiner mehrdeutigen optischen Recherchen gelangt Dalí mit diesem Bild noch einen Schritt weiter auf dem Weg zur erstrebten Entmaterialisierung und Vergeistigung. Durch die Transzendierung der Wirklichkeit schafft er ein Äquivalent zur Raum-Zeit-Gleichung und zur Sichtbarmachung der vierten Dimension.

Ausgangspunkt dieser Komposition war das Ohr von Papst Johannes XXIII. auf einem Photo, das in der französischen Zeitschrift Paris-Match erschienen war.

Dalí hat dem Ohr schon immer besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In seinem Atelier hatte er das riesige Gipsmodell eines menschlichen Ohrs mit Gehörgang, wie man ihn für medizinische Lehrzwecke verwendet, Galas Ohr ist natürlich sein liebstes Beobachtungsobjekt. Als er eines Tages im Mai 1957 beim Küssen ihres Ohrs das kleine Muttermal auf dem Ohrläppchen spürt, gerät er in Ekstase, weil er entdeckt hat, dass Picasso an derselben Stelle auch eines hat. Dann fährt er fort: "Dieser Leberfleck an Galas Ohr ist der einzige Teil ihres Körpers, den ich ganz zwischen zwei Finger fassen kann. Er versichert mich auf irrationale Weise ihrer phönixologischen Unsterblichkeit. Und ich liebe sie mehr als meine Mutter, mehr als meinen Vater, mehr als Picasso und sogar mehr als Geld!"

Nun aber hatte er in der verschlungenen Ohrmuschel des Papstes Raffaels Sixtinische Madonna entdeckt. Er lies den winzigen Ausschnitt der Reproduktion vergrössern, so dass das Raster stark hervortrat. Dann malte er die Madonna in das Ohr und legte mit Hilfe einer Siebschablone das graue Rastermoiré darüber. Um schliesslich einen weiteren Tiefeneffekt zu erzielen, malte er als Trompe-loeil die beiden Papiere mit Fäden, die gleichsam vor der Rasterung schweben. Auf diese Weise erzielte er drei räumliche Dimensionen und drei verschieden Lesarten des Bildes: Aus der Nähe betrachtet, ist es eine All-over-Abstraktion als Analogen zur Antimaterie, aus einem Abstand von zwei Metern tritt das Gesicht der Sixtinischen Madonna mit dem Jesuskind hervor, und aus einer grösseren Distanz wird das eineinhalb Meter hohe Ohr erkennbar. Dalí erklärt es als das Ohr eines Engels, das "mit Antimaterie gemalt und daher reine Energie ist. Die alchimistische Idee des Ohrs. Die Rabelais-Idee der Geburt aus dem Ohr." Da die Ohrmuschel auch aus Heil und Anteil besteht, ist sie wohl auch als morphologisches Analogon zur Doppelhelix des DNS-Moleküls und damit des genetischen Lebensprinzips anzusehen.

Mit Hilfe dieser verschlungenen Assoziation bringt er geistliche Spiritualität und die Spiritualität des neuen wissenschaftlichen Weltbildes zur Synthese, denn: "Mit meinen moirierten Bildern, deren mikroskopisches Raster die dreidimensionalen Bilder einfängt, befreie ich die Wirklichkeit von ihrem schrecklichen Taumel, indem ich die Gänsehaut der Raum-Zeit schaffe, die nach Belieben sein kann oder nicht sein kann - ebenso wie meine Sixtinische Madonna ein Ohr ist, das, je nach der stereoskopischen Wirkung, aus Antimaterie oder aus dem Antlitz der Jungfrau besteht."

Als das Bild im Dezember 1958 in der New Yorker Carstairs Gallery ausgestellt wird, präzisiert Dalí in seinem Manifest der Anti-Materie, das im Katalog veröffentlicht ist, seine Absichten: "Ich möchte ein Mittel finden, um die Antimaterie auf meine Bilder zu übertragen. Es ist eine Frage der Anwendung von Dr. Werner Heisenbergs neuer Gleichung, die eine Formel für die Einheit der Materie liefern kann." Jedenfalls hat Dalí mit seiner Sixtinischen Madonna nicht nur auf neue Weise die Vereinigung von wissenschaftlicher Erkenntnis und religiöser Transzendenz visualisiert, sondern auch das erste Rasterbild der Kunstgeschichte gemalt. So wird er auch Wegbereiter für die deutsche Malerei der frühen sechziger Jahre, wo Gerhard Richter und besonders Sigmar Polke mit verwandten Recherchen ansetzen.

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