Zwei Erlebnisse des Jahres 1895 sollten für die spätere künstlerische Entwicklung Kandinskys entscheidend sein: eine Aufführung des "Lohengrin" von Wagner und das Gemälde "Heuhaufen" von Claude Monet auf einer impressionistischen Ausstellung in Moskau. Während das erstere die enge Verbindung zwischen akustischen und optischen Erlebnissen bei Kandinsky andeutet, verweist das zweite bereits auf die ungegenständliche Malerei der Zukunft. Was Kandinsky so beeindruckt, ist die Tatsache, dass ihn das Bild fesselt, obwohl der das dargestellte Motiv nicht erkennen kann. Später schreibt er: "Unbewusst war der Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes diskreditiert." Es ist nicht verwunderlich, dass er seine ersten Schritte in der Malerei unter dem Einfluss der Farbe, zunächst der impressionistischen und dann der fauvistischen, unternimmt. In Paris, wo er sich zwischen 1901 und 1904 sowie 1907 aufhält, kann er sich in das Werk vieler der Maler vertiefen, die er zu den Ausstellungen der Phalanx und der NKVM in München einlädt - Monet, Signac, Valloton, Picasso u.a. ...
Jugendstil und Romantik des Nordens
Als Kandinsky 1896 eintrifft, ist München eines der wichtigsten europäischen Zentren moderner Kunst. 1892 war die Sezession gegründet worden, eine Künstlergruppe, die sich von der herrschenden akademischen Kunst abgespalten hat, und der die derzeit bedeutendsten Künstler angehören, wie Lovis Corinth oder Franz von Stuck. Ebenfalls seit diesem Jahr wird die Zeitschrift Jugend herausgegeben, auf die der Name des Jugendstils zurückzuführen ist. In seinem Umfeld arbeiten Persönlichkeiten wie Hermann Obrist und August Endell. Dieser Einfluss ist in einigen Werken Kandinskys erkennbar, wie auf dem Plakat für die Ausstellungen der Phalanx, aber am engsten verbindet ihn mit München seine Beziehung zum romantischen Idealismus, die er bereits in Russland herausgebildet hat. Kandinsky nimmt den melancholischen Tenor des Symbolismus auf, einer weiteren in der Sezession vorherrschenden Strömung, sowie dessen Vorliebe für Wälder und Seen. Die innere Übereinstimmung zwischen der Farbe und den Gemütsbewegungen der Seele ist in diesem romantischen Erbe inbegriffen. Kandinsky stellt es unter den Einfluss der fauvistischen Farbe.
Zwischen 1908 und 1910 durchlebt Kandinsky eine Etappe persönlicher Ausgeglichenheit, die sich in deutlichem künstlerischen Fortschritt niederschlägt. Er verbringt viel Zeit beim Malen in Murnau, wo er mit Gabriele Münter ein Haus kauft. Mindestens bis 1912 tauchen erkennbare Gegenstände in seinen Bildern immer wieder auf, aber die Grundlagen der Abstraktion sind bereits solide gelegt. Das Motiv löst sich immer mehr in den Farbmassen auf, obwohl Kandinsky es noch nicht wagt, darauf vollkommen zu verzichten. Er fürchtet, ins Dekorative zu verfallen und Bilder zu machen, "die - grob gesagt - einer Krawatte, einem Teppich gleichen würden. Die Schönheit der Farbe und der Form ist kein genügendes Ziel in der Kunst." Die musikalische Metapher ist für ihn oft der Weg, der die geistige Bindung der Malerei gewährleistet. Zu diesem Zeitpunkt beginnt er, seine Bilder in Abhängigkeit vom Charakter ihrer Durcharbeitung Impressionen, Improvisationen oder Kompositionen zu nennen, als würde es sich um kleine sinfonische Stücke handeln.
Die Jahre zwischen 1910 und dem Beginn des ersten Weltkrieges sind die entscheidenden für Kandinsky. Die eindeutig ungegenständliche Entwicklung seines Werkes führt zum Bruch mit der NKVM, die 1911 die Ausstellung von "Komposition V" mit der seltsamen Begründung ablehnt, das Format entspräche nicht den vorgeschriebenen Massen. Aus diesem Grunde vertieft Kandinsky seine Freundschaft zu Franz Marc und dem Musiker Arnold Schönberg, den Mitstreitern beim Entstehen des Blauen Reiters. Er beginnt auch, sich für die Theosophie ("Gottesweisheit") zu interessieren, deren geistige Bezüge zum Teil seinen ähneln. Auf den Bildern wird bereits so weit auf die gegenständliche Darstellung verzichtet, dass nur hin und wieder einige Striche auf Figuren oder Objekte anspielen, die eher in symbolischer Beziehung zur Bedeutung des Bildes stehen, als dass sie eindeutig sein Thema darstellen. Diese kleinen gegenständlichen Bezugspunkte offenbaren oft Kandinskys Überzeugung von der Sendung der neuen Malerei. Sintflut, Apokalypse und das Boot, das in ein neues, unbekanntes Meer vorstösst, sind Sinnbilder der Erneuerung, doch das Thema der Gemälde besteht einzig und allein im Konflikt der vibrierenden Farbmassen und in dem Ziel, "als eine materialisierende Kraft das zur Offenbarung gereifte Geistige" zu verkörpern.
Kandinsky verbringt einen Grossteil seiner Kindheit unter der Obhut seiner Tante Elisabeth Tichejewa, die ihm sehr oft russische und deutsche Volksmärchen vorliest. 1889 geht Kandinsky im Auftrag der Gesellschaft für Naturwissenschaften, Ethnographie und Anthropologie auf eine Forschungsreise nach Wologda im Norden Russlands, um das Bauernrecht und die Spuren vorchristlicher Religionen zu studieren. Diese beiden Tatsachen belegen sein frühes Interesse für die Folklore und die Volkskultur, die in der gesamten romantischen Tradition der nordeuropäischen Länder immer eine rolle spielten. In München schöpft Kandinsky weiterhin aus dieser Quelle: häufig erscheinen auf seinen Bildern die russischen und deutschen Mädchen und Märchenfiguren. Sein grosses Interesse speziell für die bayerische Tradition ist es wert, hervorgehoben zu werden, und zwar besonders das für die kleinen Votivbilder in Hinterglasmalerei aus dem 18. und 19. Jahrhundert, auf denen auf naive Weise religiöse Szenen dargestellt sind. Auf den Seiten des 1912 herausgegebenen Almanachs "Der Blaue Reiter" sind solche Bilder aus der Sammlung Krötz, eine Murnauer Bierbrauermeisters, zusammen mit volkstümlichen Drucken verschiedenen kulturellen Ursprungs abgebildet. Kandinsky sucht in der Volksseele nach Spuren jener nicht durch den Eingriff der Kultur verdorbenen geistigen Vibration, so dass er, immer auch unter dem Eindruck der Ikonen seiner russischen Heimat, selbst Hinterglasmalerei und Holzschnitte in Anlehnung an die deutsche Volkskunst anfertigte.
Die Jahre, die er in Russland verbringt, bevor er 1921 nach Deutschland zurückkehrt, um am Bauhaus tätig zu werden, sind hinsichtlich der Anzahl an Werken nicht sehr produktiv. Kandinsky wird von seiner neuen Verantwortung in der aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Kunst- und Kulturverwaltung sehr in Anspruch genommen. Die Bilder aus dieser Zeit weisen jedoch bedeutende Veränderungen auf. Obwohl er sich von den grossen Strömungen der revolutionären russischen Avantgarde unterscheidet, zeigt sich ihr Echo eindeutig in dem Prozess einer analytischen Systematisierung, dem er die Farben aus der Zeit des Blauen Reiters unterwirft. Es ist, als würde Kandinsky die Farbmassen durch die Form bändigen, disziplinieren wollen. Es gibt stets ein Element - ein Oval, einen Kreis -, das den Mittelpunkt der Komposition bildet, und häufig greift er auf Trapeze oder andere geometrische Formen zurück, die der mittleren diagonal aufgesetzt werden, um die an der Bildoberfläche treibenden Formen zu schichten und in Spannung zu versetzen. Mit dem gleichen Mittel erzeugen auch Malewitsch und die anderen Suprematisten eine schwebende Räumlichkeit auf der Fläche.
Kandinsky unterrichtet von 1922 bis 1933 am Bauhaus. Diese Lehrtätigkeit zwingt ihn, seine malerische Sprache in ein System zu fassen, was er vor allem in dem 1926 veröffentlichten Buch "Punkt und Linie zur Fläche" tut. Der in der Abhandlung "Über das Geistige in der Kunst" dargelegte Gedanke von den musikalischen und emotionalen Entsprechungen der Farben bildet weiterhin die Grundlage seiner Malerei, wird nun jedoch mit den Wechselwirkungen der Form kombiniert. Kandinskys Farbtheorie nennt vier Gegensätze: Kalt und Warm, Dunkel und Hell und die Komplementärkontraste Rot und Grün sowie Orange und Violett. Daraus ergeben sich komplexe Kombinationen. Jeder der drei Grundfarben (Blau, Gelb, Rot) entspricht einer Grundform (Kreis, Dreieck und Quadrat). Bei unterschiedlichen Kombinationen verstärken die geometrischen Formen den Charakter einer jeden Farbe oder nehmen ihn zurück und bestimmen so die Richtungen und Spannungszentren auf der Bildfläche. Kandinsky versteht es jedoch, die Theorie in den erforderlichen Grenzen zu halten, indem er sie frei und nicht als Formel für eine mechanische Anwendung benutzt.
Kandinskys Verhältnis zur aufkommenden abstrakten Malerei in Europa gestaltet sich nach seiner Niederlassung in Paris 1933 nicht einfach. Obwohl er bereits anerkannter Künstler ist, bleibt sein Bekanntenkreis in der französischen Hauptstadt klein. Trotz alledem ist die Malerei seiner letzten Jahre von einer ebenso unvoreingenommenen und gelassenen Freiheit gekennzeichnet, wie sie für so viele grosse Künstler im reifen Alter charakteristisch ist. Kandinsky wende sich von den geometrischen Kompositionen der Bauhausjahre ab und dem zu, was von einigen Kritikern wegen der kurvigen und organischen Formen "biomorphe Abstraktion" genannt wird. Oft wird in Bezug auf diese Bilder vor dem Einfluss der mikroskopischen Welt gesprochen, die den Künstler wegen des phantastischen und den Sinnen normalerweise verborgenen Universums als Alternative zur unmittelbaren Wahrnehmung gewiss fasziniert hat. Dies mystisch und festliche Lyrik dieser Bilder weist jedoch auf die "innere Natur" hin, das übergreifende Ziel, von dem sein gesamtes Werk geleitet wurde: "Das Sprechen vom Geheimen durch Geheimes. Ist das nicht der Inhalt?", schrieb er 1910 über seine Kunst. "Ist das nicht der bewusste oder unbewusste Zweck des zwingenden Schaffensdranges? (...) Mensch spricht zum Menschen vom Übermenschlichen - die Sprache der Kunst."